Divers – was bedeutet das?

von Jay Schnorrer, alias Jay Pendragon

Schon mal darüber nachgedacht, warum ihr euch als Frau oder Mann identifiziert? Keine Sorge, ich habe das auch lange Jahre meines Lebens nie getan.

Von klein auf lernte ich, dass Menschen entweder männlich oder weiblich sind, egal ob sie sich im “richtigen” Körper geboren fühlen oder nicht. Beim Aufklärungsunterricht – in Form eines toll illustrierten Buches – kam noch der Begriff intersex dazu, also Menschen die mit Merkmalen beider Geschlechter geboren sind. Ausschlaggebend war aber immer noch “beide”, also die Binarität Frau/Mann.

In meinem weiblichen Körper hatte ich mich zwar nie wirklich wohl gefühlt, doch merkte ich auch schnell, dass ich mich nicht “als Mann” fühle. Dass menschliche Geschlechtsidentitäten mehr als nur zwei Optionen beinhalten, wurde mir erst viel, viel später bewusst.

Viel mehr als simple Biologie

Geschlecht ist viel mehr als simple Biologie – unsere Gesellschaft konstruiert es mit. Rollenbilder entwickeln und verändern sich ebenso wie andere soziale Regeln, werden Kindern vorgelebt und beigebracht. So richtig begegnete mir das Konzept des Geschlechts als soziale Konstruktion, abseits von Organen und Chromosomen, erstmals im Anthropologie-Studium und in den Online-Communities, in denen ich aktiv war. Es dann auch noch tatsächlich zu verstehen war ein langer Prozess, denn ich musste über zwei Jahrzehnte von Erlerntem mit Neuem ‘überschreiben’.

Noch länger dauerte es, bis ich mich traute, unter meinen Freund*innen zu fragen, wie sich diejenigen unter ihnen fühlen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren. Angst und Unsicherheit zu spüren ist hier völlig normal, und jede Person hat einen eigenen Prozess in einer individuellen Entwicklung.

Bei mir dauerte es jedenfalls bis kurz vor meinem 27. Geburtstag bevor es plötzlich klick machte: Was ich jahrelang als “Körperbildstörung” betitelt und therapiert hatte, ist zum Großteil auch Gender-Dysphorie, also körperliches und soziales Unwohlsein hinsichtlich meines zugewiesenen Geschlechts. Mein inneres Gefühl stimmt nicht mit dem Spiegelbild überein, das mir meine Umwelt aufgrund meines Äußeren aufstülpen will. Doch – und hier kommen wir zum springenden Punkt – nur weil ich in einem weiblichen Körper geboren wurde und mich nicht als eindeutig männlich fühle, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass ich cisgeschlechtlich bin (cis = Geschlecht stimmt mit dem bei der Geburt bestimmten Geschlecht überein).

Ich bin keine Frau – und auch kein Mann. Ich bin weder-noch, beides gleichzeitig und alles dazwischen. Ich bin divers.

Diverse Menschen sehen Geschlecht nicht als Binarität (Mann/Frau) sondern als Spektrum. Männlich und weiblich sind lediglich zwei Formen, in denen sich Geschlecht ausdrücken kann. In anderen Kulturen ist das nichts neues, doch in Deutschland noch großes Neuland, was uns vor allem vor sprachliche Schwierigkeiten stellt.

Jeder diverse Mensch fühlt sich anders und erlebt Gender/Geschlecht auf individuelle Weise. Manche trans* Personen bestehen auf genderneutrale bzw. gender-inklusive Sprache, manche haben damit weniger ein Problem, wenn sie von anderen automatisch einem Geschlecht zugewiesen werden.

Wichtig ist deshalb immer, dass Mensch sich traut zu fragen. Als ich zum ersten Mal, seitdem ich offiziell “divers” im Ausweis stehen habe (Mai 2019), einen neuen Job begann, und mich Kolleg*innen nach meinen Pronomen fragten, wusste ich sofort: Hier werde ich als Mensch respektiert.

Denn jede Person weiß selbst am besten, wie Mensch sich identifiziert. Das lässt sich nicht am Äußeren bestimmen und mit sexueller Orientierung hat es auch nichts zu tun.

Sich mit dem eigenen Geschlecht und dem Genderspektrum zu beschäftigen, ist ein langer Prozess, der auch bei mir noch lange nicht abgeschlossen ist. Es ist dynamisch und individuell – es gibt kein richtig oder falsch.

Es gäbe noch viel, viel mehr zum Thema ‘divers’ zu schreiben, doch soll dies hier ja nur einen kleinen Einblick geben. Wer Fragen hat, meldet sich einfach!

Love & hugs,
Jay

 

PS: Weitere Beiträge zu meinem Weg von Julia zu Jay:

“Jay. Einfach nur Jay.” Onetz, Oktober 2019.
Eintrag “D”, BR Mediathek (VIDEO), August 2019.
“Gestatten: Jay Schnorrer, divers.”,Onetz, August 2019.
“Geschlecht: einfach nur Mensch.” ,MZ, Februar 2019.
“Julia wird Jay.”, Onetz, Dezember 2018.